09.11.2020
VBE Rheinland-Pfalz: Inklusionspolitik wird von Praktikern mit mangelhaft benotet
Eine repräsentative forsa-Umfrage im Auftrag des Verbandes Bildung und Erziehung (VBE) zeigt, dass auch zwölf Jahre nach Inkrafttreten der UN-Behindertenrechtskonvention der inklusive Unterricht noch immer nicht zufriedenstellend ist. Während 54% die gemeinsame Beschulung von Kindern mit und ohne Behinderung grundsätzlich sinnvoll finden, denken nur 20%, dass dies zurzeit auch praktisch sinnvoll ist. Befragt wurden bundesweit 2.127 Lehrerinnen und Lehrer an allgemeinbildenden Schulen, darunter 154 in Rheinland-Pfalz. Die Ergebnisse wurden am heutigen Montag in einer Video-Pressekonferenz vorgestellt.
Gerhard Bold, Landesvorsitzender des VBE Rheinland-Pfalz, zu den Ergebnissen: „Mir als ehemaligem Förderschulrektor liegen besonders die Schülerinnen und Schüler mit sonderpädagogischem Förderbedarf am Herzen. Sie sind die Schwächsten in der Schulgemeinschaft und werden bis heute von der Politik am meisten vernachlässigt. An Förderschulen fehlen Lehrkräfte, an Schwerpunktschulen funktioniert die Inklusion in der Praxis kaum bzw. nicht zufriedenstellend – weder für die Schülerinnen und Schüler noch für die Lehrkräfte. Die rheinland-pfälzische Inklusionspolitik wurde von den Lehrerinnen und Lehrern mit einer Durchschnittsnote von 4,5 ganz klar in die Schranken gewiesen.“
Erhalt von Förderschulen
Die große Mehrheit der Lehrkräfte spricht sich mit 91 Prozent dafür aus, auch bei Einrichtung eines inklusiven Schulsystems die bisherigen Förderschulen vollständig (43%) oder mehrheitlich (48%) erhalten bleiben – bundesweit sind es 83 Prozent.
Schulbau
Im Hinblick auf die Barrierefreiheit geben nur 18 Prozent der Lehrerinnen und Lehrer an, dass ihre Schule für Schulkinder mit einer Behinderung vollständig barrierefrei ist – in 39 Prozent der Fälle ist die eigene Schule überhaupt nicht barrierefrei.
Lerngruppe
Lehrerinnen und Lehrer, an deren Schule es bereits inklusive Lerngruppen gibt, geben die Zahl der Kinder in diesen Gruppen im Durchschnitt mit 19 Kindern an. Die Zahl der Kinder mit sonderpädagogischem Förderbedarf in diesen Gruppen wird im Schnitt mit drei Kindern angegeben und liegt damit minimal unter dem Bundesdurchschnitt.
Vorbereitung
Fast drei Viertel der Lehrerinnen und Lehrer geben an, dass die Lehrkräfte nur wenige Wochen (52%) oder noch weniger Zeit (23%) hatten, um sich auf das inklusive Unterrichten vorzubereiten. Auch die Aussage, dass die Lehrkräfte begleitend zum inklusiven Unterricht eine Fortbildung wahrnehmen, wird von den meisten (85%) (teilweise) verneint.
Nur wenige (19%) geben außerdem an, dass die inklusiv unterrichtenden Lehrkräfte an ihrer Schule über sonderpädagogische Kenntnisse verfügen oder dass Inklusion ein Teil der Lehrerausbildung war.
Unterstützung
Knapp die Hälfte der befragten Lehrerinnen und Lehrer (48%) gibt an, dass es in inklusiven Klassen an ihrer Schule eine Doppelbesetzung aus Lehrkraft und sonderpädagogischer Lehrkraft gibt. In 47 Prozent der Fälle gibt es diese Doppelbesetzung nicht.
Austausch
14 Prozent der Lehrkräfte geben an, dass sie sich täglich (im professionellen Umfeld) mit anderen zu den Herausforderungen inklusiven Unterrichts austauschen. 16 Prozent tauschen sich darüber mehrmals wöchentlich, weitere 25 Prozent einmal wöchentlich aus. Bei 36 Prozent findet ein solcher Austausch monatlich oder seltener statt, bei 9 Prozent nie.
Lehrkräftegesundheit
78 Prozent geben an, dass es an ihrer Schule keine Maßnahmen zur Unterstützung bei der Bewältigung von möglichen physischen und psychischen Belastungen durch die inklusive Unterrichtung gibt. An 17 Prozent der Schulen mit inklusiven Lerngruppen sind laut Aussage der Lehrkräfte Unterstützungsmaßnahmen bei Belastungen durch die inklusive Unterrichtung vorhanden.
Corona
Nur 21 Prozent der Lehrkräfte geben an, dass von ihnen oder von Lehrkräften an ihrer Schule während der Schulschließungen zu Beginn der Corona-Pandemie sonderpädagogische Fördermaßnahmen durchgeführt werden konnten. An 62 Prozent der Schulen konnten keine sonderpädagogische Fördermaßnahmen trotz der Schulschließungen durchgeführt werden.
75 Prozent sind der Ansicht, dass die Einschränkungen zur Eindämmung der Corona-Pandemie für die Inklusion von Schülerinnen und Schülern mit sonderpädagogischem Förderbedarf einen Rückschritt bewirkt haben, weil der Alltag nicht mehr geteilt wurde. Knapp zwei Drittel der Lehrkräfte (59%) sind der Meinung, dass Schülerinnen und Schüler mit sonderpädagogischem Förderbedarf bei den Schulschließungen in den Vorgaben der Kultusministerien (nahezu) vergessen wurden.
Der VBE fordert:
Für gelingende Inklusion muss das Vertrauen der Lehrkräfte in dieses Konzept zurückgewonnen werden. Dafür bedarf es massiver Investitionen, damit die Gelingensbedingungen stimmen. Dazu gehören: